Die Wurzeln der Gewalt
Es war wohl, dessen sind sich Neurobiologen und Anthropologen gleichermaßen sicher, die differenzierte Sprache, die dem homo sapiens sapiens die Möglichkeit schenkte, sich über alle anderen organischen Lebensformen auf diesem Planeten hinauszuentwickeln. Einhergehend mit dem Schluß der Hirnbrücke (corpus calossum), die ihm den ‚inneren Monolog’, d.h. das Gespräch zwischen Verstand/Ratio und Gefühl/Emotio ermöglichte, war es dem Menschen nunmehr möglich, mit seinen Artgenossen Sachverhalte zu diskutieren, Erfahrungen aus der Vergangenheit einzu-bringen, abstrakt wie konkret zu argumentieren, Pläne zu formulieren und Ansichten auszutauschen.
Folgerichtig entwickelte der Mensch Begriffe für alles ihn Umgebende – konkret wie abstrakt –, differenzierte seine Beschreibungen nach Größe und Art, Gewicht, Form und Farbe. Es war die Sprache, die den Menschen befähigte, Probleme zu diskutieren, Lösungen diskutativ zu erarbeiten, Wissen weiterzugeben und Neues hinzuzulernen.
Etwa 20.000 Sprachen und mehr als 100.000 Dialekte zählt die Linguistik heute weltweit. Diese unterscheiden sich zum einen in der Größe des Wortschatzes und zum anderen in der mehr oder weniger differenzierten Grammatik. Als ausschlaggebend für die Differenziertheit einer Sprache, die Größe des Wortschatzes und die Komplexität ihrer Grammatik sind die Lebensumstände und die Komplexität der Gedanken- und Begriffswelt, in der die jeweiligen Sprachen Verwendung finden. Mit anderen Worten: In relativ einfachen Lebensumständen genügen den Menschen auch einfachere Mittel der Verständigung, wohingegen in hochkomplexen Volksgemeinschaften auch die Sprachlich-keit höher entwickelt und vielgestaltiger genutzt wird.
Dies zeigt sich bei Kindern aus intellektuell unterschiedlich entwickelten Familien bereits im Kindergarten; Neurobiologie und Sprachwissenschaftler sind sich heutzutage darüber einig, daß die Grundfertigkeit der Sprachnutzung bereits mit etwa vier Jahren zu 95% determiniert ist. Demzufolge wird bereits in frühester Jugend – und dessen sind sich die meisten Eltern wohl gar nicht bewußt – der Grundstein dafür gelegt, wie kommunikationsfähig ein Kind in seiner Umwelt agiert. Sprache ist somit als Basiswerkzeug der Sozialisation schlechthin anzusehen.
Versagt das Elternhaus Kindern bereits in den ersten Jahren den Zugang zu komplexer Sprachlichkeit, wird dies das Kind sehr schnell als Problem und persönliches Versagen empfinden, wenn es – zuerst im Kindergarten und später in der Schule – auf MitschülerInnen trifft, deren Sprachlichkeit eben besser entwickelt, deren Wortschatz reichhaltiger und deren Kommunikationsfähigkeit ausgeprägter ist.
Insofern sind Kinder, deren Eltern aus einem anderen Sprach- und Kulturkreis kommen und die sich nicht der Mühe unterzogen haben, die Sprache des Gastlandes intensiv zu erlernen, geistig und damit auch emotional vor erhebliche Probleme gestellt. Gleiches trifft aber auch auf inländische Kinder zu, in deren Elternhaus Sprache als Kulturgut wenig und nur auf niedrigem Niveau entwickelt ist.
Entsprechend kontinuierlich steigt die Zahl der funktionalen Analphabeten, die Fachleute im Land der ‚Dichter und Denker’ inzwischen auf über 25% schätzen, und auch die weitverbreitete Ansicht, Dialekt sei der Hochsprache vorzuziehen, übersieht, wie zunehmend sprachbehindert Kinder sind, in deren Elternhaus eben nur gesächselt, berlinert, gebayert, geschwäbelt oder gebabbelt wird.
Ein dementsprechend niedriges Sprachniveau äußert sich dann in Minderwertigkeitskomplexen und kommunikativer Hilflosigkeit, was entweder zu autistischen Verhaltensmustern, Zurückgezogenheit und Schweigsamkeit führt, oder mit anderen Mitteln kompensiert wird – neben der zunehmend beobachtbaren Beschränkung auf physische Aggressivität und überbordendem Aktionismus mit lautstarkem Gehabe, Angeberei, Jähzorn und Unbeherrschtheit.
Wer nun Lehrern und Erziehern in Kindergärten und Schulen glaubt, die Schuld für das „Rütli-Syndrom“ in die Schuhe schieben zu können, irrt gewaltig; es sind die Eltern, die in ihrer Aufgabe, die Grundlagen der primären Sozialisation zu legen, versagt haben. Erzieher in Kindergärten, noch viel mehr jedoch Lehrer in Schulen, haben es mit bereits ausgereiften Produkten einer besseren oder schlechteren sprachlichen, emotionalen und intellektuellen Erziehung im Elternhaus zu tun. Ihre pädagogischen Möglichkeiten, grundsätzliche Arbeit zu leisten, die im Elternhaus verabsäumt wurde, sind aus vielerlei Gründen beschränkt: Unter dem Diktat eines staatlich-politischen Bildungsauftrages (der von moderner Erziehung so wenig Ahnung hat wie von zeitgemäßen Bildungsinhalten), müssen Pädagogen in viel zu großen Klassen jeweils in Abschnitten von 45 Minuten versuchen, ein homogenes Lernfeld zu entwickeln, um auf diesem völlig unterschiedliche Interessen, Voraus-setzungen und Fähigkeiten zu koordinieren.
Dabei stehen Pädagogen von vornherein in der schwächeren Position; Kinder erproben ihre Sozialisierung in der Schule grundsätzlich völlig anders, als sie dies im Elternhaus üblicherweise gelernt haben. Zuhause eingeübte Regeln verlieren in der völlig andersartigen Sozialgemeinschaft Klasse ihre Gültigkeit. Die Autorität der Eltern zählt im Unterricht kaum bis gar nichts; die sich in jeder Sozialgemeinschaft bildende Hierarchie ist völlig anders strukturiert als im Elternhaus, und schnell erfaßt das Kind den andersartigen Regelkatalog in der Schule. Hinzu kommen intellektuelle und emotionale Inhalte, die es vielfach im Elternhaus weder erlebt und kennengelernt hat, noch die es dann zu Hause fortsetzen und weiter erleben kann und darf.
Soziologen und Pädagogen, Kriminologen und Verhaltensforscher können ein Lied davon singen: Je einfacher strukturiert (vulgo: dümmer und primitiver) das Elternhaus, desto auffälliger, hilfloser und letztlich aggressiver (bzw., als Gegenreaktion, schüchterner und autistischer) zeigen sich Kinder dann in den sozialen Gemeinschaften außerhalb der häuslichen Umgebung. Je hilfloser die Eltern mit der Phänomenologie ‚jugendlichen Heranwachsens’ umgehen, desto asozialer gebärden sich die Früchte ihrer „Erziehung“ auf der Straße, im Umfeld Gleichaltriger und der Schule.
Erfahren diese Opfer primitiver, teilweise gar völlig desinteressierter Erziehung im Elternhaus dann in der Klasse die entsprechende Ablehnung, flüchten sich die Jugendlichen beinahe selbstverständlich in eine aggressive Grundhaltung ihrer Umwelt gegenüber und rotten sich mit ähnlichen Erziehungs-opfern zu jugendlichen Gangs zusammen. Ergänzung findet diese zunehmende De-Sozialisierung in den Medien, „Musik“- und Tele-Angeboten (Rap, Baby-groups, Sponge-TV), die an Schwachsinn unmöglich zu unterbieten sind. Daß wir nun immer häufiger Phänomene gewaltbereiter und perspektiveloser Kinder und Jugendlicher erfahren, liegt u.a. – spätes Erbe der sozialpolitisch kriminellen ‚Frankfurter Schule’ – natürlich umso mehr in den Stadtbezirken und Bundesländern, die ohnehin wirtschaftlich, kulturell und soziologisch auf niedrigstem Niveau stehen.
All dies so deutlich anzusprechen, ist natürlich politisch inkorrekt, vielleicht weckt es aber auch kurzsichtige Sozialromantiker und ewig-gestrige Verfechter der Gesamtschule aus ihren Märchen-träumen. Das Niveau von Kindern und Jugendlichen richtet sich beileibe nicht nach dem Einkommen der Eltern, sondern ist ein unbarmherziger Spiegel der im jeweiligen Elternhaus herrschenden Sprach- und Denkkultur.
Hier müßte intelligente und verantwortungsvolle Bildungspolitik ansetzen, nur scheuen sich Politiker aus populistischen Gründen, die wirklichen Ursachen für das ‚Rütli-Syndrom’ beim Namen zu nennen – die Eltern, die in ihrem pädagogischen Auftrag, Kinder nicht nur in die Welt zu setzen, sondern deren emotionale und intellektuelle Basis inhaltsreich und lebensbejahend zu gestalten, in immer zunehmendem Maße versagen, weil ihnen genau dieser pädagogische Auftrag – zunehmend schwieriger in einer immer komplexeren Welt – niemals verdeutlicht und vermittelt wurde. Dabei gäbe es genügend Alternativen – jenseits staatlicher Bildungshoheit: Elternschulen, Seminare zu Kommunikation und Rhetorik, Pädagogik und Psychologie, Philosophie und Politik. Wir gehen einer Bildungskatastrophe, einer geistig-emotionalen Verslumung breiter Schichten der Bevölkerung entgegen. Eine dringend nötige Bildungsreform kann nicht von systemgefangenen Politikern und Parteien ausgehen, nur müssen das die Verantwortlichen, die Eltern, zu verstehen bereit sein.
H.-W. Graf