Wir alle sind (als „Rudeltiere“) darauf hin erzogen, in Harmonie mit unserer Umwelt zu leben, um Konflikte möglichst zu meiden. Der „Preis“ dafür ist, daß wir uns dem Moralcodex – der Summe der Sprach- und Verhaltensmuster – anpassen, die unser Umfeld kennzeichnen. Soweit es sich hierbei um höfliches Benehmen, Eßsitten, etc. handelt, ist dies nur zu begrüßen. In diesem Artikel soll es aber mehr um unsere nach außen gezeigten Verhaltensmuster gehen, die sich in unserer Sprachlichkeit dokumentieren. Angepaßt und bequem lebt demnach, wer sich bestmöglich dem ‚codex generalis‘ unterwirft. Da man damit aber andererseits auch immer ‚unauffälliger‘ wird, versuchen wir, zumindest in Teilbereichen unseres Lebens eine Art ‚Originalität‘ zu entwickeln bzw. zu bewahren, um uns (zumindest partiell) zu unterscheiden, individuell und unverwechselbar zu bleiben. Gerade in der geistig-seelischen Pubertät kommt es deshalb regelmäßig zu Problemen, wenn der heranreifende Jugendliche sein eigenes Profil, seine individuelle Unverwechselbarkeit sucht und zu entwickeln bestrebt ist. Je ruhiger und gelassener Eltern und Umfeld mit Interesse und Verständnis (statt mit Vorschriften, Zwang, Verachtung und Spott, Versagens- und Verlustängsten) darauf reagieren, desto leichter fällt es, Spitzen in dieser Entwicklungsphase zu „glätten“, Übersprungsreaktionen zu vermeiden und dem Jugendlichen zu helfen, einerseits seine Individualität auszuprägen, andererseits den Konnex zu seinem Umfeld (und damit den ‚Boden unter den Füßen‘) nicht zu verlieren [also keine Angst vor Eskapaden – Piercing, grellem Auftritt, pubertärer Sprache, emotionalen Ausbrüchen, etc.]. Beugt sich der pubertätsgebeutelte Jugendliche nämlich dem Anpassungsdruck zu nachhaltig (z.B. durch eine allzu ausgeprägte Angepaßtheit der Eltern), gibt der Jugendliche seine Suche nach individueller Selbständigkeit auf und führt künftig ein unauffälliges Leben in der Masse. Nur in seiner Phantasie und der Pseudo-Realität von Filmen, Trash-TV (‚DSDS‘, ‚Dschungelcamp‘) oder heimlich (z.B. in ‚Swinger-Clubs‘ und SM-Studios), in Fußballstadien, Rockergruppen oder in „offiziellen“ Ausnahmesituationen „Fasching/Karneval“, „Oktoberfest“, etc.) lebt dieser Mensch dann die kärglichen Reste von Individualität aus, die ihm ansonsten probat abtrainiert wurden (bzw. die ihm nie gestattet waren, auszuleben). Manche kommen aus dieser inneren Protestphase für den Rest ihres Lebens nie heraus. Andere suchen dann ihr Heil in sakralen Zirkeln, Religionen und Sekten, exzessiven/rücksichtslosen Karrieren, Risikosportarten oder als Politiker.
Hinter all diesen Verhaltensweisen/-störungen und unterdrückten Individualitätsmustern stecken instinktive Bedürfnisse und damit in Konflikt stehende Versagens- und Verlustängste, die Angst vor Ausgrenzung und Vorwurf, Schuld und Vereinsamung.
Diese individuelle Problematik wird aber zu einer kollektiven Verhaltensstörung, wenn einer Gruppe von Menschen, gar einer Nation, Verhaltens-, Denk- und Sprachmuster übergestülpt werden, die einzig dem Zweck dienen, sie unter Kuratel zu zwingen und kollektive Schuldgefühle aufzubauen – kurz: Abhängigkeiten zu entwickeln und Kontrolle über sie zu erhalten/behalten. Beispielhaft seien hier sämtliche Religionen erwähnt, deren Vorgaben/Gebote kein Mensch zu 100% erfüllen kann (soll er ja auch gar nicht; sonst entzöge er sich dem kollektiven Schuldvorwurf). Aber auch nach Kriegen werden die Sieger jeweils zu Despoten über die Verlierer (Deutschland kann auch nach fast drei Generationen ein „Lied“ davon singen); den Juden werfen stramme Christen bis heute vor, einen gewissen Jesus ans Kreuz genagelt zu haben; die US-Regierung zahlt bis heute Indianern Renten für den Landraub der Weißen. Das ganze Arsenal von Vorurteilen, mit denen praktisch jedes Volk (zumeist von seinen Nachbarvölkern) belastet ist, grenzt ab und aus, kollektiviert die Masse, schafft und bewahrt Feindschaften und gerinnt zu ‚Meinungsterror‘. Sich dem zu entziehen, ist umso schwieriger, je des-individualisierter der Einzelne ist.
All unser berufliches wie auch privates Tun und Handeln wird durch ein gemeinsames Faktum gebündelt – die Sprache. Mittels Sprache erfolgen alle Formen des Austauschs von Gedanken und Gefühlen, Meinungen und Ansichten, Wünschen und Forderungen, Angeboten und Befehlen. Unser gesamtes DenkFühlHandeln versammelt sich in unserer Sprachlichkeit, und insofern ist unsere Sprech-, Schreib- und Körpersprache das einzigartige und wichtigste „Instrument“, mit dem wir den Kontakt zu unserer Umwelt aufbauen und pflegen. Insofern ist leicht nachzuvollziehen, daß unsere Sprache – quasi der Spiegel unseres DenkFühlens – wie ein Ausweis unserer Personalität wirkt, und dementsprechend benutzen wir unsere Sprache: Wenn wir uns in Sicherheit, im familiären Umfeld, unter Freunden oder Gleichgesinnten wähnen, pflegen wir eine offenere Sprache; treffen wir auf Fremde, gehen wir sprachlich vorsichtiger vor (oder haben Scheu, uns überhaupt zu äußern). Ob wir Artikel schreiben oder Vorlesungen/Vorträge halten, Kundengespräche führen, neue Mandanten kennenlernen oder im Urlaub auf Unbekannte stoßen, wir versuchen, uns sprachlich auf die Situation einzustellen. Je selbstsicherer, freier und unverklemmter wir sind, desto autarker und authentischer ist auch unsere Sprache. Natürlich gilt es dabei gewisse Anstaltsregeln einzuhalten, aber unser Wunsch ist eigentlich, ehrlich zu sagen, was wir denkfühlen. Dennoch unterstellen wir uns sprachlich (mündlich wie schriftlich) unbewußt auch der verbalen Korrektheit („political correctness“), um nicht anzuecken, nicht gegen „Tabus“ zu verstoßen, nicht abgelehnt oder ausgegrenzt zu werden – je unsicherer und angepaßter wir sind, desto mehr.
Nicht selten führt diese sprachliche „Kastration“ dann aber auch zu Fehleinschätzungen (von beiden Seiten), Mißverständnissen und (zwangsläufig) späteren Enttäuschungen, wenn aus vormals Fremden allmählich Bekannte oder Freunde werden.
Fazit: ‚Meinungsfreiheit‘ ist ein sehr ambivalenter Begriff. Es gilt, sorgsam zwischen individueller Empfindungswelt, Ansicht und Meinung einerseits sowie kollektiver Haltung andererseits abzuwägen. ‚Meinungsfreiheit‘ kann weder gesetzlich verordnet, noch politisch diktiert werden; sie ist ein individuelles Gut und ein personaler Wert, den sich niemand aufzwingen lassen sollte – man muß sich ja nicht zu allem äußern, zu allem eine Meinung haben. Insofern spiegeln z.B. Umfragen zur Meinungsfreiheit zumeist mehr die Ängste der Befragten als eine faktische Entität wider. Ebenso wenig kann der Gesetzgeber eine Meinungs’freiheit‘ garantieren, denn der meisten Menschen ‚Meinung‘ ist ohnehin nicht ihre eigene, sondern der sprachliche Spiegel dessen, was sie als Ansicht von Dritten übernommen haben, denn eine (eigene) MEINung setzt eine intensive Auseinandersetzung mit thematischen Inhalten voraus, und dazu nehmen sich die meisten Menschen ohnehin nicht die Zeit. Deshalb „leihen“ sie sich lieber von Anderen, was sie dann als ihre (eigene) Meinung äußern und vertreten. Keiner muß Angst davor haben, eine (wirklich eigene) Meinung zu vertreten, wenn sie nicht gleichzeitig die Ehre, das Ansehen und die Freiheit eines Dritten verletzt. Gleichwohl gilt es, insofern achtsam mit kollektiven Ängsten/ Befindlichkeiten zu rechnen, denen sich derjenige aussetzt, der sich öffentlich zu brisanten Themen äußert. Hierbei gilt es einerseits, nicht über juristische Tretminen zu stolpern, andererseits aber auch nicht über eigene Ängste, auf Widerstand und Ablehnung zu stoßen – womit wir wieder bei der o.g. Frage angelangt sind, wie sich eine autarke, authentische Persönlichkeit von einer allen genehmen, angepaßten Person unterscheidet.
Hans-Wolff Graf