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Mythos Manchestertum – Teil 1

Autor: Detmar Doering

Ein Versuch über Richard Cobden und die Freihandelsbewegung anläßlich der 200. Wiederkehr des Geburtstages von Richard Cobden am 3. Juni 1804


„Manchestertum“! Auch nach 150 Jahren zuckt jeder, der mit diesem „Vorwurf“ konfrontiert wird, schuldbewußt zusammen. Der Begriff suggeriert nichts anderes als ein scheinbar pervertiertes Verständnis von liberaler Politik, das ohne soziale Skrupel den Reichen und Starken freie Bahn verschaffen will. Das populäre Geschichtsverständnis verbindet hierzulande mit „Manchestertum“ Szenen von Elend, Not und Ausbeutung, die man seit der Kindheit aus den Romanen von Charles Dickens kennt. Die akademische Welt hat sich – vor allem in Deutschland – diesem Geschichtsbild weitgehend angeschlossen. Repräsentativ dafür definiert ein historisches Standardnachschlagewerk, das „Ploetz Lexikon der Weltgeschichte“ (2000), den Begriff „Manchestertum“ wie folgt:

Bezeichnung für die extreme Form des liberalistischen Kapitalismus v.a. der ersten Hälfte des 19. Jh., benannt nach der Stadt Manchester (dort um diese Zeit prosperierende Textilindustrie); propagiert die freie Wirtschaft ohne jegliche staatliche Steuerung bei gleichzeitiger völliger Vernachlässigung der sozialen Frage.

Die „Manchesterliberalen“ des 19. Jahrhunderts wären – lebten Sie noch heute – mit Sicherheit verblüfft über ihren Nachruhm, der – wie in diesem Lexikontext – selten präzisiert, personalisiert, dafür fast immer pauschalisiert verbreitet wird. Auch den meisten Zeitgenossen wäre dieses Urteil der Nachwelt wohl seltsam vorgekommen, hatten doch die „Manchesterliberalen“ gerade den Ruf, zu den sozial engagierteren unter den Liberalen ihrer Zeit zu gehören. Selbst derjenige, der nicht mehr jede politische Forderung der „Manchesterliberalen“ von damals für aktuell oder angemessen hält, muß bei näherer Betrachtung der historischen Realität zugestehen: Es handelt sich um einen Mythos; einen Mythos, der ideologischen Zecken dient – und dieser Mythos lastet bis heute schwer auf Herz und Gewissen der Liberalen.

Durch nichts läßt sich besser der Nachweis führen, daß hier mit großem Erfolg ein politisch motiviertes Vorurteil in die Welt gesetzt wurde, als durch die Darstellung der Politik jener Liberalen des 19. Jahrhunderts, die man später mit dem Begriff „Manchestertum“ belegte. Dies gilt besonders für das politische Lebenswerk von Richard Cobden (1804-1865), dem Anführer der Gruppe, der eine Volksbewegung hervorrief, und dem man noch lange nach seinem Tode in vielen britischen Städten Denkmäler errichtete – gerade, weil er von den Menschen seiner Zeit als „champion of the poor“ verehrt wurde.

Das große Elend

Im Jahre 1836 durchzog eine enorme Teuerungswelle England. Arbeitslosigkeit breitete sich aus, der wiederum gewalttätige Ausschreitungen folgten. Der Verlangsamung der Wirtschaftsdynamik folgte 1841 die schlimmste Handelskrise seit über 100 Jahren – eine richtiggehende Depression. Pauperismus griff um sich.

1845 steigerte sich in Irland die Krise zu einer Hungersnot, [….]