Autor: Michael Felten
Verlag: Herder Spektrum 2006
Preis: € 8,90
Umfang: 160 Seiten
ISBN: 3-451-05610-0
Kinder brauchen Zeit und Zumutung. Der Lehrer Michael Felten erklärt, warum pädagogische Enthaltsamkeit falsch ist.
Gerade ist ein „Lehrerhasserbuch“ auf den Markt gekommen, geschrieben von einer vierfachen Mutter. Der 51jährige „Betroffene“ Michael Felten, seit 25 Jahren im Schuldienst und Vater einer Tochter, geht nicht den krassen Weg, nur umgekehrt, nein, er schickt nicht alle Eltern in die Wüste oder stellt sie an den Pranger, sondern zeigt ihnen den Weg auf, auf dem sie die mühselige, aber wohl in aller Regel lohnende Strecke der täglichen schulischen Lernbegleitung ihrer Kinder optimal meistern können. Zugleich warnt er vor den Fallen am Wegrand, die sich in unserer Gesellschaft seit Jahren offenbar schlaglochartig auf breiter Bahn ausgeweitet haben.
Für Felten steht fest: Die „Wurzeln für die landesweite Lernschwäche“, öffentlich bekannt geworden als ‚Pisa-Schock’, liegen im häuslichen Bereich und nicht in der Frage von Klassengrößen oder mangelnden Gesamtschulplätzen. Die Beschäftigung mit dem Kind von klein auf sei entscheidend, und für viele Heranwachsende bedeute die ihnen heute zugemutete Selbständigkeit nichts anderes als Vereinsamung und Überforderung auf ganzer Linie. Ergebnis: Null-Bock-Haltung und Dauer-Party am Wochenende. Hinzu komme das oft zu nichts verpflichtende, aber zu allem verwöhnende „Familienhotel“ mit Rundumservice: Eltern, die auch pubertierenden Jugendlichen keine Grenzen setzen, erweisen ihnen einen Bärendienst, ist Felten sicher. Und damit hat er wohl leider recht. Der Pädagoge mahnt: „Wir kümmern uns zu wenig um die Heranwachsenden, wir fordern ihre Fähigkeiten zu wenig heraus und wir muten ihnen zu wenig Belastungen zu. … Insbesondere das schulische Lernen hat unter dieser pädagogischen Enthaltsamkeit erheblich gelitten.“
Mehr Zeit und mehr Zumutung – so heißt Feltens Zauberformel. Angesichts eines immer dichter werdenden elterlichen Zeitplans („Viele Mütter und Väter sind aber heute zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit ihrer Karriere, mit ihren Selbstverwirklichungsträumen“) warnt der Pädagoge: „Wer keine Zeit für Kinder hat, dem entgehen viele Gelegenheiten, sie bei ihrem Lernen zu unterstützen. Er kann nicht genug Anteil nehmen, er kann ihre Fortschritte zu wenig anerkennen, er kann ihren „Beruf“ nicht in ausreichendem Maße wichtig finden. Und das hat Folgen.“ Dies sei „bei bildungs-nahen Doppelverdienern ebenso wie bei der Single-Hausfrau in einfachen Verhältnissen“.
Das immer wieder gern ins Feld geführte Argument, entscheidend sei nicht die Quantität, sondern die Qualität des Zusammenseins für die gesunde Eltern-Kind-Beziehung, entkräftet Felten mit dem Hinweis: „Die Erfahrung lehrt, daß wenig Zeit allzu schnell Hektik bedeutet, also auch bei bestem Willen und Bemühen mit Oberflächlichkeit und Ungeduld einhergeht.“ Gerade für das tägliche Eingehen auf das schulische Erleben des Kindes sei Zeit aber unerläßlich und Zeitmangel Gift: „Das läßt sich nicht hektisch zwischen Tür und Angel abwickeln.“ Bloße Hausaufgabenkontrolle in gereizter Grundstimmung bewirke nichts, außer daß sie das Kind verunsichere. Es gehe darum, volles Interesse am Schulalltag und Wissensstand des Kindes zu zeigen. Doch dafür, gerade auch für ein längeres Gespräch mit ihren heranwachsenden Kindern, nähmen sich viele Eltern heute keine Zeit mehr. So hat Felten mit seinem Buch auch einen wichtigen Beitrag zur aktuellen familienpolitischen Debatte geleistet, der vor allem eines klar macht: Die Interessen von Eltern mögen sich gewandelt haben, die Bedürfnisse von Kindern nicht.
Birgitta vom Lehn