Warum die Lebensmittel immer knapper und teurer werden
Autor: Wolfgang Hirn
Verlag: S. Fischer Verlag
Preis: € 14,95
Umfang: 288 Seiten
ISBN: 978-3-10-030412-4
Lebensmittel werden immer billiger, so dachte man zumindest bis zum Frühsommer des Jahres 2008. Als dann die Preise für Mais, Milch, Reis, Soja, Weizen und die hieraus fabrizierten Lebensmittel explodierten, leuchtete für kurze Zeit das Schreckgespenst der Nahrungsmittelknappheit auch für die sogenannte „Erste Welt“ auf. Durch die dann einsetzende Finanz- und Wirtschaftskrise fielen diese Preise jedoch erneut drastisch, die Nahrungsproblematik verschwand wieder aus den Medien.
Folgt man den Ausführungen des Autors, der viele Länder und Institutionen vor Ort besucht hat, um sich selbst ein Bild von der Ernährungssituation zu verschaffen, ist es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis Bevölkerungsexplosion, Verknappung von Anbauflächen und Überfischung sowie der Klimawandel (wobei dieses Argument eher fraglich scheint) ihre dramatischen Auswirkungen auf die Welternährung zeigen werden.
In der grundlegenden Einschätzung, daß auch die Industrieländer vor großen Herausforderungen stehen – zumindest in Form von deutlich höheren Preisen für Nahrung – kann dem Autor schwerlich widersprochen werden. Wer weiß schon, daß die Milliarden Hühner, Rinder und Schweine auf dieser Erde schon fast 40% der globalen Getreideernte als Futter verbrauchen, oder daß die Nahrungsmittelvorräte stetig abnehmen und derzeit nur noch für rund 70 Tage weltweit reichen würden? Die Ernährungsfrage ist eng verbunden mit der Frage, wie viele Menschen auf der Erde überhaupt leben und überleben könnten. Unzählige Wissenschaftler haben sich mit dieser Frage beschäftigt und – wie soll es auch anders sein – ihre Ergebnisse waren höchst unterschiedlich. Von maximal 10 Mrd. Menschen bis 1.000 Mrd. (ja, Sie haben richtig gelesen: 1 Billion Menschen) beträgt die Bandbreite der Einschätzungen. Die meisten Prognosen aus den vergangenen Jahrhunderten pendelten sich zwischen 4 und 16 Mrd. ein. Nimmt man das Mittelmaß von 12 Mrd., dürfte dies möglicherweise gar nicht so weit weg von der derzeitigen Realität sein. Aber bereits hier dürfte klar werden, daß man mit jedweden Aussagen und Prognosen hinsichtlich der zukünftigen Möglichkeiten der Ernährung der Menschheit äußerst vorsichtig umgehen sollte.
Unzweifelhaft ein großes Problem stellt der immer weiter zunehmende weltweite Fleischkonsum dar. Früher aß die herrschende Klasse stets Fleisch, das Volk ganz selten oder nie. Mit steigendem Einkommen und Wohlstand der Bevölkerung wurde der Fleischkonsum aber langsam „demokratisiert“. Während die USA mit 125 Kilogramm zusammen mit Spanien den unangefochtenen Welt-rekord im Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch halten (in Deutschland liegt der Schnitt bei rund 87 Kilogramm Fleisch pro Jahr), sind die aufstrebenden Regionen dieser Welt in Asien, Südamerika und Afrika dabei, ihren Fleischkonsum kräftig zu erhöhen. So betrug der weltweite Fleischkonsum 1990 ca. 150 Mio. Tonnen, 2003 aber schon 250 Mio. Tonnen (neuere Zahlen liegen offensichtlich noch nicht vor). Und Hühner, Rinder und Schweine brauchen Futter, viel Futter. Aber auch hinsichtlich der Fischbestände gibt es Probleme. Hinlänglich bekannt ist ja zwischenzeitlich, daß die Ozeane regional bereits leergefischt wurden und weiter werden.
Weniger bekannt ist jedoch, daß die vermeintliche Lösung, das „Aquafarming“ (quasi der „Schweinestall“ im Meer), neben den grundsätzlich gesundheitsgefährdenden Formen von Massentierhaltung ein weiteres großes Problem darstellt:
Die fischenden Farmen benötigten Nahrung, viel sogar. Als Faustregel gilt inzwischen: Man braucht drei bis vier Pfund „wilden“ Fisch an Nahrung, um ein Pfund „gefangenen“ Lachs zu erzeugen. Je mehr Fisch also aus Aquakulturen kommt, desto mehr Fischfutter wird benötigt, also vor allem Fischmehl und Fischöl. Und diese beiden Nahrungsquellen werden wiederum aus kleinen Fischen gewonnen. Der größte Fischmehl- und -öllieferant und die zweitgrößte Fischnation der Welt ist übrigens Peru, das zusammen mit Chile den Markt für Fischmehl beherrscht. Nach Gewicht sind die Anchovettas (die zu Fischfutter verarbeitet werden) die am häufigsten gefangene Fischart der Welt. Ein Drittel aller weltweit gefangenen Fische wird bereits zu Fischmehl und -öl verarbeitet. Und: Schon seit Jahren stagniert die weltweite Produktion von Fischmehl, daher steigen die Preise. Kostete 2001 eine Tonne Fischmehl noch 400 $, so waren es Anfang 2009 bereits zwischen 800 und 900 $. Der Futterengpaß für Fisch wird also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu massiv steigenden Preisen führen.
Interessante Randnotiz: Natürlich sind die Japaner mit 69 Kilogramm pro Kopf und Jahr die absolut fischverrückteste Nation der Welt. Aber woher kommt eigentlich die Tradition des Fischessens der Japaner? Im 7. Jahrhundert verbot ein buddhistischer Kaiser das Verspeisen aller Tiere an Land; also aßen die Japaner fortan die Tiere aus dem Meer …
Auch die Problematik, daß es ohne Wasser kein Essen gibt, bzw. daß unser Wasserverbrauch in hohem Maße davon abhängt, wie wir uns ernähren, wird anhand verschiedener Beispiele illustriert. So soll die Erzeugung eines Kilogramms Rindfleisch zwischen 15.000 und 20.000 Liter Wasser benötigen und ein Kilogramm Camembert bei der Produktion 5.000 Liter. Alles einberechnet verbrauchte der durchschnittliche westliche Konsument indirekt täglich 2.500 bis 3.000 Liter Wasser (bei nur 130 Litern aus dem Wasserhahn bzw. dem Duschkopf!). Ob in diese Berechnung auch das Regenwasser einfließt, ist dem Buch aber nicht zu entnehmen. Glaubhaft jedoch ist, daß die Landwirtschaft der bei weitem größte Wasserverbraucher der Welt ist und rund 70% des Wassers durch die Landwirtschaft fließen (das meiste davon zur Bewässerung). Ergo: Aufgrund steigender Bevölkerungszahlen brauchen wir mehr Nahrungsmittel und somit auch immer mehr Wasser, womit das nächste Problem am Horizont aufscheint: Ohne Öl könnte man ja notfalls überleben, ohne Wasser jedoch mit Sicherheit nicht.
Was ist aber mit all den derzeit noch ungenutzten Flächen weltweit? Abgesehen von den Regionen, wo es zu kalt oder zu trocken ist, um etwa Getreide anzubauen, sind z.B. noch jede Menge an landwirtschaftlich ungenutzten Flächen in Osteuropa und Lateinamerika vorhanden. Aber dies würde z.B. in Rußland oder der Ukraine Investitionen erfordern, die bisher nicht getätigt werden. Außerdem haben die Oststaaten eine miserable Infrastruktur. In Südamerika sieht es besser aus. Wie auch immer: Rußland und Brasilien werden die Welt nicht alleine retten können; unterm Strich verliert die Welt zunehmend an Boden.
Die niedrigste Selbstversorgungsrate unter den Industrieländern hat zwischenzeitlich Japan mit nur noch 40%, die koreanische beträgt sogar nur noch 25%. Bedenkt man, daß 1965 in Japan die Selbstversorgungsrate noch bei 73% lag, ist die Gefahr groß, daß hiervon weitere Staaten erfaßt werden; insbesondere jene, die stark auf Industrialisierung setzen und gleichzeitig eine große Bevölkerung ernähren müssen – China und Indien.
Wußten Sie, daß es einen Lobbyistenverband der europäischen Margarine-Industrie gibt? Allerdings wird diese gesamte Branche mehr oder weniger von einem einzigen Unternehmen beherrscht, dem Nahrungsmittel-Multi Unilever (Becel, Du Darfst, Lätta, Sanella, Rama). Wir denken an Vielfalt, doch in Wirklichkeit ist es ein Hersteller – ein weiteres Problem, die zunehmende Abhängigkeit von einigen wenigen „Giganten“.
Wer sind eigentlich die großen Weizenproduzenten? Nun, nur ein paar Länder sind überhaupt in der Lage, große Menge an Weizen zu exportieren: Die USA, Kanada, Australien und Argentinien gehören traditionell zu den ganz Großen in diesem Geschäft und aus den osteuropäischen Ländern mischen noch die Ukraine oder Kasachstan mit. Falls einer dieser Staaten als Exporteur ausfällt oder seine Ausfuhren reduzieren muß, gibt es ein Problem. Die Aussage des Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes, Gerd Sonnleitner, „die meisten Verbraucher haben noch nicht realisiert, daß wir in den vergangenen 10 Jahren nur eine einzige Getreideernte hatten, die über dem Jahresverbrauch lag“, sollte da schon mal die Alarmglocken schrillen lassen. Aufgrund der geringen Lagerbestände könnte eine einzige Mißernte bereits große Probleme bereiten.
Auf 6% der landwirtschaftlich genutzten Fläche der Erde wird bereits Soja angebaut (die Dänen waren übrigens die ersten, die in den 1930er Jahren den hohen Nährwert von Soja für ihre Kühe, Schweine und Hühner erkannten!). Heute werden rund 80% des Sojas verfüttert!
Aber es gibt weitere Regionen auf der Welt, wo die Probleme noch ungleich dramatischer sind bzw. werden könnten. Sei es der Nahe Osten, wo die arabischen Staaten die meisten ihrer Lebensmittel importieren müssen (obwohl einige, wie z.B. Jordanien, Syrien oder Jemen eigentlich gar kein Geld dafür haben), von Afrika, in der westlichen Welt ja allseits bekannt für latente Nahrungsmittelprobleme, ganz zu schweigen. Aber auch Asien hat zu knabbern. In Kambodscha sind Ratten (im Wok gebraten) inzwischen eine günstige Alternative zu viel zu teurem Rindfleisch geworden; demzufolge steigen dort jetzt auch für dieses Nagetier die Preise.
Die reichen Länder versuchen, ihre drohende Nahrungsmittelknappheit durch den Aufkauf und das Pachten von Ländereien auf der ganzen Welt abzusichern. Selbstverständlich sind auch Investoren (Hedgefonds u.a.) auf die Idee gekommen, daß sich aus Ackerland oder potentiellem Ackerland zukünftig Geld machen läßt. Zur Zeit will beispielsweise kein argentinischer Landbesitzer verkaufen. Sie warten einfach ab und glauben, daß ihr Land noch wertvoller werden könnte. Vermutlich liegen sie mit dieser Einschätzung gar nicht falsch. Es dürfte sich also um ‚Kolonialismus in neuem Gewande’ handeln, wobei sich die Frage stellt, ob es sich die armen Bevölkerungen in Kambodscha, Pakistan oder Sudan gefallen lassen, daß sie Hunger leiden müssen, während auf den Äckern in ihren Ländern Lebensmittel für reiche Araber und Asiaten gedeihen. Konflikte sind programmiert.
Am Schluß des Buches widmet sich der Autor noch den verschiedenen Alternativen, wie z.B. Genfood oder auch der auf den ersten Blick skurril anmutenden Idee, Fleisch künstlich herstellen zu können. Im übrigen hat kein Land mehr Agrarwissenschaftler als China; keine Regierung leistet sich einen derart aufwendigen staatlichen Forschungsapparat – in der Hoffnung, daß dabei irgendwann wieder etwas Revolutionäres wie etwa Hybridreis herauskommt.
In Anbetracht der komplexen Problemstellung erscheinen die Tips, die der Autor am Schluß noch anbietet, wie wir (also die Menschen in den Industriestaaten) unseren Teil zu einer Verbesserung der Lage beitragen könnten, ein wenig naiv: weniger Fleisch essen, mehr Kartoffeln, mehr italienisches Essen (da gesünder), mehr Chinesisches (Fleisch nur als Beilage), mehr Lokales, mehr Saisonales. Und abgepackte Lebensmittel sollten wir vermeiden – auch als Ausdruck der Ablehnung eines Diktats der Konzerne, die uns vorschreiben, was wir essen sollen. Aber noch kaufen wir im Westen 80% unserer Lebensmittel in den Supermärkten (übrigens eine ur-amerikanische Erfindung). Wenn aber die UN-Umweltorganisation ermittelt hat, daß über die Hälfte der produzierten Nahrungsmittel weltweit im Müll verschwindet, so gibt dies dann doch zu denken und zeigt (ähnlich wie im Energiesektor), daß Maßhalten und Sparen bei kluger Vorgehensweise nicht unbedingt zu einem schlechteren Standard führen müssen.
Alles in allem bietet das Buch eine Fülle an Daten und Fakten zu einem Thema, das uns in den nächsten Jahren in weit höherem Maße beschäftigen wird, als dies in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war – auch und gerade in den industrialisierten Ländern. Die weitere Entwicklung sollte man sehr sorgsam beobachten.
Frank Amann