Autor: John Dickie
Verlag: S. Fischer Verlag, Frankfurt
Preis: € 19,90
Umfang: 560 Seiten
ISBN: 3-10-013906-2
Der Begriff „Mafia“ gehört – wie „Pizza“, „Spaghetti“ oder die „Oper“ – zur Liste der Wörter, die aus dem Italienischen in viele andere Sprachen auf der ganzen Welt übernommen wurden. Außerhalb Italiens weiß jeder, bzw. glaubt jeder zu wissen, was die Mafia ist. Der Autor John Dickie hat den Versuch unternommen, die Geschichte der Mafia zu ergründen. Gemeint ist in diesem Zusammenhang die ‚Cosa Nostra’ (zu Deutsch: „unsere Sache“) – die sizilianische Mafia –, sozusagen die „Urmutter“ der Mafiaorganisationen.
Was mit den spektakulären und weltweit beachteten Attentaten auf die Untersuchungsrichter Falcone und Borsellino Anfang der 90er Jahre seine (vorläufig) dramatischste Zuspitzung erlebte, ist in seinen Ursprüngen etwa 150 Jahre alt. Rund um die einst üppigen Zitronenplantagen – diese gehörten zur damaligen Zeit zu den profitabelsten landwirtschaftlichen Flächen Europas! – begann die Mafia, die sich selbst übrigens nie so nannte, ihr Unwesen in Sizilien, insbesondere in Palermo und in dessen unmittelbarer Umgebung.
Der Autor spannt den historischen Bogen von damals bis zum Erscheinen des Buches (2004) und fördert hierbei Aufschlußreiches zu Tage. Die ‚Cosa Nostra’ schaffte es, eine einzigartige Organisation zu gründen, die die Eigenschaften eines Staates im Staate mit dem eines illegalen Unternehmens und einer eingeschworenen Geheimgesellschaft zu verbinden vermochte. Obwohl schon bereits Ende des 19. Jahrhunderts umfassende Dokumente über die Struktur und das Wirken der Mafia vorlagen, schaffte es die Organisation bis vor wenigen Jahren, das Image der „bäuerlichen Ritterlichkeit“ aufrechtzuerhalten.
Für die Verbrecherorganisation Mafia war dabei von großem Nutzen, daß die allgemeine Auffassung vorherrschte, es gäbe sie gar nicht. „Eine geheime, kriminelle Organisation gibt es nicht; diese Verschwörungstheorie haben sich Leute ausgedacht, die nicht verstehen, wie Sizilianer denken“. Wenn die angeblich so primitive sizilianische Mentalität an allem Schuld war, wie konnte man dann die Mafia verfolgen? 150 Jahre gelang es der Mafia hervorragend, mit diesem System aus falschen Vorstellungen zu hausieren. Ihre Existenz blieb eine Theorie, ein Verdacht, quasi Ansichtssache – und das bis vor erstaunlich kurzer Zeit. Tatsächlich war die ‚Cosa Nostra’ eine lose organisierte Vereinigung, die ihren Mitgliedern dreierlei abverlangte: Verschwiegenheit, Gehorsam und erbarmungslose Gewaltbereitschaft. Daß der italienische Staat sich der sizilianischen Mafia gegenüber über ein Jahrhundert lang zumindest sehr ignorant verhielt, ist nur teilweise mit den Verstrickungen von Politik und Mafia erklärbar.
Daher ist das von Dickie verfaßte Buch nicht nur die Geschichte der Mafia, sondern auch eine Geschichte der italienischen Versäumnisse bei der Bekämpfung dessen, was eigentlich immer auf der Hand lag. Die verschiedenen Kapitel behandeln die diversen Abschnitte der Geschichte der Mafia, erste Prozesse um die Jahrhundertwende, die Entwicklung und Entstehung des amerikanischen Zweiges, die Mafia in der Diktatur unter Mussolini (in der sie empfindlich getroffen, aber nicht zerstört wurde) sowie die beiden spektakulären Mafiakriege in den 1960er und 1980er Jahren, bis hin zu ihrer Entwicklung in den letzten Jahren.
Neben dem höchst spannenden historischen Abriß enthält das Buch viele interessante Details, die zu wissen sich durchaus lohnen, so z.B. daß Mafiafamilien und Familien von Blutsverwandten zwei völlig verschiedene Dinge sind. Die Vielgestaltigkeit der Beziehungen ist eines der wichtigsten Merkmale der Mafia.
Wer dieses Buch liest, den erwartet eine spannende Lektüre. Das durch viele Filme und Romane geprägte Mafiabild erhält zwar manche Bestätigung, aber auch ganz empfindliche Kratzer. Wer zum Thema „Mafia“ mitreden will, sollte dieses Buch gelesen haben.
Frank Amann