An Unglücke, Unfälle und andere Ungewöhnlichkeiten sind wir gewöhnt – eine ganze Industrie lebt davon, uns tagtäglich Alltägliches als wichtig und besonders zu verkaufen, medientechnisch aufzublasen, was die Sensationsgier befriedigt und unsere Gelangweiltheit in Einschaltquoten und Auflagen umzumünzen. Dann wird analysiert und gemutmaßt, in den Archiven nach Vergleichbarem gestöbert, und speziell Politiker grapschen nach jeder Chance, sich telegen, gegelt und staatstragend in Erinnerung zu bringen, zu warnen und zu mahnen, zu befürworten oder sich zu entrüsten, auch wenn sie realiter weder eine Ahnung noch irgendetwas zu sagen haben.
Doch was am 17. Dezember 2010 in Tunesien geschah, nun in Ägypten seine erste Fortsetzung findet und allsamt erst den Anfang der vielleicht mächtigsten sozialpolitischen Reform der letzten Jahrzehnte zu werden droht, überrascht Medien wie Politiker gleichermaßen.
Von der Selbstverbrennung des 26-jährigen Tunesiers Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid, 265 km südlich von Tunis entfernt, erfuhr hierzulande niemand etwas. Kein Wunder; ein arbeitsloser Akademiker, der sich ohne Lizenz als Gemüse- und Obstverkäufer seinen Lebensunterhalt zu verdienen suchte, dessen Stand die Gewerbeaufsicht räumen und seine Waage konfiszieren läßt – das gibt medientechnisch nichts her. Doch sein Tod am 4. Januar 2011 änderte die Szenerie schlagartig. Plötzlich brachen sich an mehreren Orten des Landes – und binnen 36 Stunden auch in Algerien, Marokko und sogar Saudi Arabien – Unmut und Haß Bahn.
Dabei ging es – in dieser Region des Maghreb und Teilen der Arabischen Liga die Ausnahme – mal nicht um die “typischen” Themen (Stammesstreitigkeiten; die Kontroverse Islam/Christentum, Revierkämpfe der örtlichen Korruptionskartelle, u.ä.), vielmehr äußerte sich laut, was seit Jahrzehnten im Untergrund schwelt, von der herrschenden Clique und den von deren Geheimdiensten streng kontrollierten Presse, Militär und Polizei aber nahtlos überwacht und unter Kuratel gehalten wird: Allen diesen nordafrikanischen und arabischen Staaten gemein sind: autokratische Führungsstrukturen, ein sehr “beliebiges” Rechtswesen, eine stark islamisch geprägte Soziographie, bittere Armut, keinerlei Zukunftschancen für die Massen (während deren “Häuptlinge” als Kostgänger der internationalen Politik Milliarden auf den Privatkonten anhäufen, Gehöfte in NY, Paris und am Tegernsee erwerben und ihre Kinder westliche Universitäten besuchen), ein Durchschnittsalter der Bevölkerung zwischen 22 und 26 Jahren (Deutschland: 52) und eine Jugendarbeitslosigkeit von 40 bis 65% – je nach (unterschiedlicher) Alterszurechnung unter den Begriff Jugend (16 bis 18). Gleichzeitig ist das Volksvermögen gefährlich einseitig verteilt; so besitzen z.B. die rund 30.000 Saudis, die der Herrscherfamilie zugerechnet werden (etwa 0,03% der Gesamtbevölkerung) rund 99% des gesamten Vermögens des Landes, und dieser “Clan” hält auch sämtliche relevanten Schlüsselpositionen in Behörden, Ämtern und größeren Betrieben. Die Herrscher von 50 der 54 afrikanischen Staaten sowie faktisch aller 19 Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga sowie der nichtarabischen Staaten des Nahen Ostens mögen sich demokratisch gewählt nennen und sich unter dieser Camouflage auch nach außen gerieren, doch die Wahrheit sieht völlig anders aus. Und noch eins ist den Potentaten dieser Länder gemein; sie sitzen an den Fleischtöpfen der “Suppenküche” Internationaler Währungsfonds (IWF/IMF) und in den wichtigen internationalen Gremien (Handel, Verkehr, Finanzwesen, Militär, Gesundheits- und Bildungswesen, Transport und Logistik, Medien und Nachrichtendienste). Sie kuscheln sich unter die Fittiche der NATO, genießen das Wohlwollen der USA, denen sie im Gegenzug zumeist Stützpunkte, Überflugrechte, logistische Unterstützung und weitestgehend Wohlverhalten gegenüber dem Patenkind der Westmächte des 20. Jahrhunderts, Israel, zusichern. Wie die absolute Majorität der Bevölkerung ihr schieres Überleben sichert, ein Minimum an Bildung akquiriert, sich medizinisch versorgt oder das Alter bestreitet, ist für die ‚crème d’etat’ ohne Belang und nicht einmal Gegenstand der Erörterung in den streng kontrollierten Medien. Insofern ist mehr als hypokritisch, wenn sich westliche Medien über russische Rechtsverhältnisse mokieren und die Zustände im Reich ihrer “Verbündeten” mit keinem Wort erwähnen.
Kein Wunder, daß spezifisch in derart autokratisch bzw. diktatorisch regierten Ländern der soziologische Untergrund einem Hochmoor gleicht und fanatische Sektierer sowie sämtliche Spielarten des Islam einen geradezu idealen Spielplatz vorfinden, in dem gefährliche Sumpfblüten heranwachsen. Kann unter diesen Umständen verwundern, daß Al Qaida und Hunderte von (trans) regionalen Bin Ladens wie ein Mycel alle Ebenen unterhalb der obersten Schicht durchziehen? Was in Lateinamerika die Drogenkartelle, in Süditalien die vier Arme der Mafia, in Osteuropa sowohl die orthodoxen Kirchen (neben dem Staat der größte Eigentümer von Bodenschätzen und Minen, der Forst-, Fleisch- und Fischwirtschaft) als auch regionale Mafias sind, in China die Triaden und in Japan die 14 Familien der Yakuza (über das japanische Handels- und Wirtschaftskartell MITI bestens mit der Regierung vernetzt!), das sind in den offiziell reichen Ölländern des Nahen Ostens und Nordafrikas die selbsternannten Vertreter und “Garanten” der Rechte des bettelarmen Großteils der Bevölkerung – die verschiedenen islami(sti)schen Strömungen.
Wer einen Blick in die Zukunft wagt, dürfte erstaunt bis erschrocken die Lippen schürzen – obwohl der DBSFS und der ‚zeitreport’ sich zu diesen Entwicklungen seit 35 Jahren immer wieder zu Wort gemeldet haben, u.a. durch die Studie ‚UNSERE WELT’, 1992 und 1993. Gemutmaßt werden darf folgendes Szenario: Nach Tunesien und Ägypten – wir geben dem Diktator Mubarak noch maximal einen Monat – dürfte es zu Aufständen und bürgerkriegsähnlichen Zuständen u.a. im Jemen, Algerien, Jordanien, Saudi Arabien (mindestens so überfällig wie Ägypten), Teilen der Türkei und Somalias, zunehmend auch in den Westprovinzen Chinas, dem Kaukasus und Zentral- bzw. Ostafrika (insb. Elfenbeinküste, Gabun), in Mali, Niger und Nigeria kommen.
Wenn deutschland- wie weltweit Politiker und Medien, Konzernchefs und Wirtschafts”weise” freudetrunken und albern-pfauig die Posaunen des “Sieges” über die Finanz- und Wirtschaftskrise blasen, so dürfen wir dringend warnen: Politiker und Bosse bringen ihre Schäfchen natürlich stets ins Trockene, und auch den brav nach höherem Geheiß flötenden Medien und Wirtschaftswissenschaftlern (was schaffen die eigentlich an wirklichem Wissen?!?) wird es nicht naß im Speicher werden, aber für den “Rest” der Bevölkerung – und München, Frankfurt, Köln, Hamburg und Berlin sind nur einen Mausklick von den Dutzenden von Krisenherden entfernt, die sich hier gerade entwickeln – könnten die wirkliche Wirtschaftskrise und, in deren Gefolge, dramatische soziologische Verwerfungen weltweit gerade kurz vor dem Ausbruch stehen.
Aber, wie so oft in der Geschichte: Das Gros der Menschen wird der Gefahr erst gewahr, wenn die “Lavaströme” dieser dann bevorstehenden Eruptionen bereits den Handtuchgarten überfluten. Auch in Pompeji, Herculaneum und Stabiae glaubte 79 n.Z. niemand den Fischern und Schafhirten, die vor dem Ausbruch des Vesuvs warnten, und Kassandra bezahlte ihre Warnung vor dem “Geschenk” der Griechen mit dem Leben. Die Nihilisten von heute ergötzen sich an DSDS, Ekelcamps, Talkshows für geistig Behinderte und Stefan Raab.
Sämtliche wirtschafts-, sozial-, finanz- und militärpolitischen Probleme, die Großbritannien, Frankreich, die USA und auch Rußland heute haben (vergessen wir China nicht; die Menetekel werden gerade an die Wand gepinselt!) – Tendenz: stark bis bedenklich steigend -, verdanken sie einer ideologieverblendeten, geschichtsvergessenen, egozentrischen Machtpolitik. Wir beginnen eben erst, die „Früchte des Zorns” zu ernten! John Steinbeck und Goethes ‚Zauberlehrling’ lassen grüßen.
Hans-Wolff Graf