Der kanadische Psychologe und Bestseller-Autor Gordon Neufeld beschreibt, warum es so verhängnisvoll ist, Kinder früh in die Selbständigkeit zu drängen.
Teenies, die stundenlang miteinander chatten, telefonieren oder simsen, die nur noch Lust auf Klamotten, Partys und Coolsein haben und Eltern und Lehrer ignorieren, kommandieren und tyrannisieren. Mädchen, die es als normal betrachten, Jungs auf Partys Oralsex anzubieten, die sich magersüchtig hungern, um mithalten zu können und die in der Schule ihre Intelligenz verstecken, um nicht aufzufallen. Jungs, die sich Schnittwunden zufügen, um Härte zu demonstrieren, und die keine Hemmungen haben, dies auch anderen anzutun. Eher die Ausnahme als die Regel? Leider nein.
Eltern reden das oft als „normales pubertäres Verhalten“ schön. Dabei muß normal ja nicht natürlich oder gesund sein. Man sucht die Sündenböcke in Gewalt- und Pornovideos, aufreizender Medienkultur, Popmusik und ähnlichen Dingen. „Halt, Irrtum!“, ruft der kanadische Bindungsforscher, klinische Psychologe und fünffache Vater Gordon Neufeld aus Vancouver dazwischen. Ursache sei fast immer eine Bindungsstörung zu den Eltern. Ist die Bindung intakt, richten die verderblichen Verlockungen so gut wie keinen Schaden an. Doch seit einigen Jahren machen sich die entscheidenden Bezugspersonen rar, und eben da liegt das Problem.
„Ben is lonely. He hasn´t got a lot of friends. His dad is an engineer and his mum a professor, so they´re often out. And his sister Susan is in America.” So beginnt die traurige Geschichte eines Jungen namens Ben im Fünftklässer-Englischbuch für Gymnasien. Als Ersatz freut Ben sich über „C1B1“, weshalb die Geschichte auch „A cool new friend“ heißt. Den stellt Ben seiner kurz ins Zimmer schauenden Großmutter vor. Der Computer wird allen Ernstes als Ersatz für die fehlenden Familienmitglieder präsentiert. Schulbücher wollen Realität abbilden. Der Berliner Cornelsen-Verlag hat also keine traurige Ausnahme-, sondern eine Regelsituation geschildert.
Aber das Dilemma fängt ja schon viel früher an. Aktive Mutterschaft wurde hierzulande per Gesetz auf ein Jahr beschränkt, Väter haben zwei Monate zu wickeln, das war´s. Danach sollen Kinder praktisch übergangslos in Institutionen betreut werden. Und damit hört der Luxus für die allermeisten von ihnen auf, echte Bindungen mit Erwachsenen, geschweige denn Eltern, leben zu können, denn der Betreuungsschlüssel ist in Krippen und Kitas aus Kostengründen niemals Eins zu Eins.
Gezwungenermaßen pflegen also schon Kleinkinder tagsüber ausschließlichen Umgang mit Gleichaltrigen, später setzt sich dies in Ganztagsschulen fort.
Das Problem: [….]