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Über sich hinauswachsen von Anfang an

(Kapitel 9 aus dem Buch Das Geheimnis der ersten neun Monatevon Prof. Dr. Gerald Hüther)

Auch wenn wir es uns und unseren Kindern noch so sehr wünschen: Ein Leben ohne Probleme gibt es nicht. Diesen paradiesischen Zustand erreicht man erst dann, wenn man geistig, seelisch und schließlich auch körperlich gestorben ist. Leben ist eben kein Zustand, sondern ein Prozeß, oder genauer, ein Erkenntnis gewinnender, Erfahrungen in Strukturen verwandelnder Prozeß. Jede neue Erkenntnis, zu der man gelangt, weil man z. B. ein bisher rätselhaftes, unerklärliches, fremdartiges oder gar bedrohliches Problem verstanden hat, und jede neue Erfahrung, die man im Lauf seines Lebens macht und die man später nutzt, um solche und ähnliche Probleme auch weiterhin zu meistern, führt dazu, daß man sich selbst verändert, daß man anders zu denken, zu fühlen und zu handeln beginnt, und damit ein anderer Mensch wird, als der, der man bisher war.

Zu Beginn des Lebens, also während der Kindheit und insbesondere in der Zeit vor der Geburt, machen wir überwiegend solche Erfahrungen und sammeln solche Erkenntnisse, die das bisher vorhandene Wissen ständig vermehren und zu den bereits entwickelten Fähigkeiten immer neue hinzufügen. Auf diese Weise kommt es zu einer fortwährenden Erweiterung des Horizonts, und das wiederum stärkt die Entdeckerfreude, die Gestaltungskraft und den Wissensdurst. So wächst jedes Kind mit jeder Fähigkeit, die es hinzulernt, und mit jeder neuen Erkenntnis, die ihm hilft, etwas mehr von der Welt, in die es hineinwächst, zu erkennen und zu begreifen, auch jedes Mal ein Stück über sich selbst hinaus. Später kommen dann leider allzu häufig auch negative Erfahrungen hinzu, solche, die den Horizont wieder verengen, die den Mut und die Lust am Entdecken der Welt und der eigenen Möglichkeiten Stück für Stück rauben. Sie führen dazu, daß sich ein Kind nun nicht mehr weiter öffnet, sondern sich zunehmend abgrenzt und zurückzieht. Ein solches Kind wächst dann nicht mehr über sich hinaus, sondern nur noch in sich (d. h. in den bis dahin erschlossenen Teil von sich und der Welt) hinein. Damit ist das Leben zwar noch nicht zu Ende, denn noch immer sind auch in dieser engen eigenen Welt genug Probleme zu bewältigen. Aber ein solcher Mensch hat nun genau das verloren, was anfangs noch vorhanden war und was ihm damals, ganz am Anfang seines Lebens den Mut verliehen hat, sich in die Welt hinauszuwagen: seine Offenheit und damit auch die Vielfalt der Möglichkeiten, die ihm diese Offenheit ursprünglich einmal geboten hat. Er hat sich emotional eingeschnürt in ein Korsett aus negativen Erwartungen, betrachtet die Welt fortan durch eine Brille, die den Blick verengt. Eine Brille aus vorgefaßten Erwartungen, Überzeugungen und Vorurteilen. Viele Menschen glauben daran und bestärken sich gegenseitig in der Überzeugung, daß das so sein muß. Sie sind sogar der Ansicht, daß jemand, der diesen von Enttäuschungen, Frustrationen und Verlusten gepflasterten Weg hinter sich hat, endlich „in der Realität“ angekommen sei. All jene, denen diese leidvollen Erfahrungen erspart geblieben sind oder die in der Lage waren, ihr Leben und die Probleme irgendwie zu meistern, ohne dabei ihre Offenheit zu verlieren, sind in den Augen dieser „Realisten“ unverbesserliche Optimisten, Träumer oder eben ganz einfach „Kinder“ geblieben.

An dieser Stelle lohnt es sich, einen Augenblick innezuhalten und sich das, was sich auf diese Weise im „realen Leben“ immer wieder abspielt, nämlich der Verlust der Fähigkeit, über sich hinauszuwachsen, etwas genauer anzuschauen. Kein Mensch kommt mit einem Rucksack voller enttäuschter Erwartungen, verletzter Gefühle oder frustrierender Erfahrungen zur Welt. Was diesen Rucksack nach der Geburt mehr oder weniger rasch füllt, sind auch nicht die Probleme und Schwierigkeiten, die das Leben dann zwangsläufig für jeden bereithält. Es ist vielmehr die Erfahrung, daß es Probleme gibt, die sich nicht lösen lassen, ohne die eigenen Bedürfnisse, eigenen Erwartungen und eigenen Wünsche zu unterdrücken oder sie den Bedürfnissen, Erwartungen und Wünschen derjenigen Menschen anzupassen, in deren Gemeinschaft man hineinwächst und auf deren Zuwendung und Nähe, auf deren Fürsorge und Schutz, auf deren Wissen und Erfahrung man angewiesen ist – vor allem dann, wenn man noch ein Kind ist.

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