‚Bildung’ leitet sich, so belehrt uns das etymologische Wörterbuch, vom athochdeutschen ‚bildunga’ – „Schöpfung, Verfertigung, Bildnis, Gestalt“ ab. Dieses Begriffs bemächtigte sich im 18. Jahr-hundert vor allem die Pädagogik, um uns mit dem Begriff der ‚Ausbildung’ – im Sinne von „auf dem letzten Stand befindlich, fertig“ – zu beglücken. Dahinter verbirgt sich jedoch tragischerweise das genaue Gegenteil; zunehmend verflachte nämlich die Bildung zu formalem Wissen, dessen Inhalte regelmäßig einem höher gestellten Subjekt trefflich Dienst leistete – dem Staat und seinen jeweils untergeordneten Systemstrukturen. Otto und Lieschen Müller fiel dies natürlich umso weniger auf, als die Tatsache, daß nunmehr Jeder Lesen und Schreiben lernen durfte, allgemein als segenbringende Errungenschaft angesehen wurde. Die Kirche hatte das bis dahin eisern verteidigte Bildungsmonopol an die sich seit dem Wiener Kongreß (1815) stetig machtpolitisch entwickelnden Staaten verloren. Nun galt es, die zunehmend in die Städte drängende Bürgerschaft auch bildungstechnisch zu verein-heitlichen, um Berufsbilder und diese formierenden Bildungsinhalte kontrollierbar zu gestalten. Bislang war nämlich jedwede Ausbildung auf Basis der Weitergabe der Meister an ihre jeweiligen Schüler beschränkt, die Vermittlung simpler Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen blieb unterbezahlten Lehrern vorbehalten. Binnen weniger Jahrzehnte erfolgte dann die Trennung in das Bildungsbürgertum einerseits (Angestellte bzw. deren „veredelte“ Spezies, Beamte) und das (damals noch überwiegende) Heer der manuell tätigen Arbeiter. Entsprechend wurden die verschiedenen Bildungseinheiten sortiert – alles unter staatlicher Determination und Kontrolle –, und wer seiner (aktiv oder passiv) geplanten Bestimmung entsprechend unterrichtet schien, wurde als ‚ausgebildet’ bezeichnet (neuhochdeutsch: zertifiziert).
Wie und ob darüber hinaus der Einzelne seine intellektuelle und fabrizielle Bildung – beruflich und außerberuflich – auch weiterhin fortentwickelte, blieb ihm selbst überlassen. Vornehmlich wurde Bildung jedoch funktional und systemisch betrieben, z.B. als Inhalt gewerkschaftlicher Forderungen.
Zwar sind das heutige Bildungsangebot und die Möglichkeiten, dieses wahrzunehmen, schier unendlich, schwierig ist aber für den Einzelnen, echte Information von gelenkter Desinformation[1] zu unterscheiden. Das zunehmend ausufernde Universum möglicher Bildungsinhalte macht es für den modernen Menschen zunehmend schwieriger, seine persönlichen Bildungs-Prioritäten zu setzen. Zudem wird funktionales und singuläres Wissen nur allzu hastig mit Bildung gleichgesetzt. „Fachidioten“ sehen sich bei jedem Technikwechsel hilflos im Abseits; sie werden nicht mehr benötigt. Kein Wunder – echte, breitgefächerte Bildung fehlt ihnen.
Natürlich können auch die Geschehnisse in den laufenden soap operas und der genaue Tabellenstand des favorisierten Vereins im weitesten Sinne als Bildung (miß)verstanden werden. Die sich daraus ergebenden Gesprächsinhalte sind dann aber auch entsprechend flach. Zu wirklicher eigener Bildungsarbeit werden Kinder und Jugendliche jedoch in den wenigsten Familien und so gut wie gar nicht im staatlichen Bildungswesen angeleitet. Auch das hat einen tieferen Sinn; eigen-bildungs-befähigte Menschen sind schwieriger zu kontrollieren, zu führen und systemisch zu koordinieren.
Eben deshalb kämpfen staatliche Institutionen so unnachgiebig um die Bildungshoheit, d.h. das Recht, Bildungsinhalte und Bildungsmechanismen unter staatlicher Aufsicht zu halten. Dem Bürger wird das als sozialpolitische Schutzmaßnahme verkauft.
Dieser staatlichen Bildungskontrolle kommt die desinformative Pseudo-Bildung, wie sie uns via Medien tagtäglich um Augen und Ohren geschlagen wird, trefflich zugute; da das Gros der Menschen Weiterbildungsmaßnahmen zum einen ohnehin nur auf den beruflichen Teil des Lebens beschränkt und ihre Teilnahme daran zumeist davon abhängig macht, daß der Arbeitgeber hierfür, bitteschön, auch die Kosten zu übernehmen habe, geraten immer mehr Menschen ins berufliche und, daraus sich entwickelnd, auch ins soziale Abseits. Eingefrorene Bildungsbefähigung und -bereitschaft verhindert soziale wie auch berufliche Anpassung und verhilflost – heute wie früher – eigenständiges Reagieren auf eine sich verändernde Welt.
Wenn nun Politiker und Gewerkschafter den Bildungsnotstand ausrufen, eifrig Bildungsoffensiven und „Elite“-Universitäten einfordern und dabei mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Arbeitgeber und Unternehmer deuten, sollten Sie nicht übersehen, daß drei Finger der gleichen Hand auf Sie selbst gerichtet sind; die heutige Bildungsmisere – in Lehrplänen und Schulen aller Kategorien, aber auch in der Bevölkerung insgesamt – ist ebenso systembedingt, wie die Probleme in sozialer, wirt-schaftlicher und fiskalpolitischer Hinsicht.
Bildung in jeder Weise kann immer nur auf dem Boden individuellen Interesses erarbeitet und gelebt werden. Wo sich Systeme dem freien Markt und damit konkurrierender Wettbewerbsfähigkeit verschließen, laufen sich immer rascher verändernde Lebensbedingungen an den davon betroffenen Bürgern vorbei.
Solange sich die Menschen unter ein staatlich-systemisches Bildungskuratel stellen lassen und Bildung noch nicht als eine höchst private Angelegenheit erkennen, werden dieses Land und seine Bürger im internationalen Vergleich immer weiter ins Hintertreffen geraten. Unter weniger „sozialen“ Lebensbedingungen reift in anderen Ländern, auf die wir früher lächelnd herabsahen und die wir heute verwundert wahrzunehmen beginnen, ein gesünderes Eigenengagement, sich den Fordernissen der Zukunft zu stellen.
Und selbst wer darauf verweist, daß das deutsche Bildungsniveau noch immer weltweit zu den besten gehört, handelt nach dem Prinzip: Unter den Blinden ist der Einäugige König – noch!
Die Tatsache, daß das in den letzten 15 Jahren entwickelte Internet zu über 85% ausschließlich dazu genutzt wird, Pornoseiten herunterzuladen, bei eBay nach Schnäppchen zu suchen oder für verlänger-bare Gliedmaßen zu sorgen, wirft ein fragwürdiges Bild auf die Bildungsbereitschaft der Menschen hierzulande. Sie laufen Gefahr, daß der technische Fortschritt den vielleicht wertvollsten Lebens-inhalt der menschlichen Existenz zunehmend vertrocknen läßt – emotionale und geistige Lebensbefähigung.
Wirklich gebildete Menschen sind freier (von fiktiven Ängsten) und fallen auf Ideologien – auch religiöse und gewerkschaftliche – weniger herein. Sie leben autarker und selbstbestimmter.
H.-W. Graf
[1] sh. Artikel: „Die Macht der Information“, Hans-Wolff Graf
So bereitet der Souverän, nachdem er jeden Einzelnen der Reihe nach in seine gewaltigen Hände genommen und nach Belieben umgestaltet hat, seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz kleiner, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln, das nicht einmal die originellsten Geister und stärksten Seelen zu durchdringen vermögen, wollen sie die Menge nicht hinter sich lassen; er bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, er steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Nation schließlich dahin, daß sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung zu sein vorgibt.
Alexis de Tocqueville (1805-1859)
Über die Demokratie in Amerika
Anm.: In gleicher Weise dürfte er heute über Deutschland schmähen.