Während sich The New Caxton mit dem französischen élite und dem Hinweis auf die italienischen Soziologen und Anthropologen Gaitano Mosca (1858 – 1941) und Vilfredo Pareto (1848 – 1923) und deren darwinistisch orientierte Definition sozialer Eliten bezieht, geht der Brockhaus zurück auf das lateinische eligere (‚auswählen’) und definiert Eliten als ‚ausgewählte Minderheit und Führungsschicht’. Ebenda finden wir aber auch die abwertende Definition ‚überheblich’ und die Unterscheidung zwischen ‚Funktions-Eliten, Geburts-, Wert- und Macht-Eliten’ sowie ‚militärischen und sozialen Eliten’.
Praktisch seit dem 2. Weltkrieg beschränkte sich der Begriff im Deutschen auf den militärischen Bereich (‚Elite-Soldaten’), galt ansonsten jedoch als verpönt; zu lebendig war noch die Erinnerung an den nationalsozialistischen Inhalt des rassisch-„überlegenen“ Ariers. Statt dessen hantiert man im Deutschen hauptsächlich mit dem Begriff des ‚Prominenten’, und davon gibt es reichlich und im Übermaß, wobei sich bei genauerem Hinsehen jeweils derjenige zu den Prominenten zählen darf, der – auf welchem Wege auch immer – oft genug ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerät und/oder es in die Schlagzeilen der Presse und in die Talkshows der öffentlich-(un)rechtlichen oder privaten Sender bringt. Hierbei geht es beileibe nicht um Qualität, vielmehr entscheiden Werbeetats, jegliche Ästhetik oder Intelligenz mit Stiefeln tretende Perversion[1] und sogar Straffälligkeit darüber, wer als prominent gelten darf. Ob Politiker oder Künstler, Sportler oder mit gespreizten Fingern in Augenhöhe wedelnde Zeitgenossen (taktisches Zeichen für: „Mein Hirn ist leer, wie sieht`s in Deinem aus?“), was immer Aufmerksamkeit provozieren kann, wird den Rezipienten als prominent – im Sinne der Auserwähltheit – offeriert und aufgedrängt.
Daß Eliten, egal in welchem Sinne, eine Vorbildfunktion wahrnehmen und damit insbesondere jungen Menschen als Zielgrößen für die Gestaltung des eigenen Lebensweges dienen sollten und könnten, gerät dabei immer mehr in den Hintergrund. Kein Wunder, daß kranke Figuren im DenkFühlen der Jugendlichen (und leider auch vieler Erwachsenen) geradezu gefährliche Auswüchse generieren; die Schwarzeneggers und Küblböcks in Politik, Wissenschaft und Forschung, Kunst und Musik, Film und Fernsehen, Mode und allen Bereichen des öffentlichen Lebens präg(t)en die Lebensinhalte und Denkweisen der letzten beiden Generationen. Nur peripher wird wahrgenommen, daß es auch noch wirkliche Eliten gibt. Sie halten sich zu leise im Hintergrund, verstehen es zumeist nicht, sich entsprechend medienwirksam zu präsentieren, ihr Öffentlichkeitswert ist schlicht zu gering. Stattdessen drängen sich Witzfiguren aus Politik und Sport, egomane Selbstdarsteller und Psychopathen ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Sie kreier(t)en den Zeitgeist und bestimm(t)en den Wertekatalog als Sinnbilder eines verfremdeten Elitarismus`.
Spätestens seit der gerade für Deutschland so demütigenden PISA-Studie dämmert es manchen Zeitgenossen – nein, Politiker schwätzen nur davon! –, daß unsere Kultur- und Geisteshaltung, das gesamte soziologische Konzept in diesem Lande in seiner Konsistenz verblüffende Ähnlichkeit mit einem Schweizer Käse hat; unter dem Damokles-Schwert einer politisch unkorrekten Nutzung des Begriffes Elite mutiert(e) ein ganzes Volk in seiner grundsätzlichen Geistes- und Wesenshaltung.
Machen Sie die Probe aufs Exempel: Fragen Sie Ihre Kinder und deren Freunde, aber auch ihre Bekannten und Kollegen nach 10 Menschen, die diese zur Elite zählen; Sie werden wahlweise den Kopf schütteln oder erschrecken müssen.
Nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, daß 35-Jährige inzwischen ihre Biographien verfassen (lassen), Fußball- und Tennisprofis Persönlichkeitsbildungs-Seminare abhalten und Politiker allen Ernstes behaupten, Verantwortung zu übernehmen. Wer wäre dazu weniger geeignet!
Müssen wir uns da groß wundern, daß durchlöcherte Nasen, Zungen, Lippen, Geschlechtsteile und Hirne, eine zunehmend verballhornte Sprache in Wort und Gesang, eine nur noch auf passive Rezipienz ausgerichtete Kultur und eine von dröger Interesselosigkeit geprägte Jugend den Ton angeben? Geradezu Mitleid und verächtliche Bemerkungen riskiert, wer sich offen zu klassischer Musik bekennt, tiefschürfende Themen zur Diskussion stellt oder zu sozialem Engagement aufruft. Und wer möchte als Jugendlicher schon abseits stehen, belächelt oder gehänselt werden, weil ihm ein gutes Buch sinnstiftender erscheint als ein surrealer Actionthriller?
Zu pessimistisch und defätistisch, meinen Sie? Nun, dann machen Sie oben genannte Probe aufs Exempel.
Nur wenn wir wirklicher Elitarität auch wieder ihren Rang beimessen und uns den Westerkübls, Schrödeggers und Müntebohlens wieder zu entsagen lernen, wir uns darüber klar werden, daß wir den geltenden Wertekatalog als Maßstab für künftige Generationen gestalten dürfen und sollten, werden wir Begriff und Spektrum der Elite wieder zum Maßstab eigenen DenkFühlHandelns entwickeln können. Es mag altmodisch erscheinen, aber für mich bedeutet Elite fachliche Kompetenz, soziale Lauterkeit und verantwortungsbewußtes Handeln, nicht auf eigene Vorteile schielendes Engagement und eine vorbildhafte Lebensführung. Zur Elite gehört für mich auch, wes DenkFühlHandeln nicht auf Applaus und gefeierte Beachtung abzielt, sondern sich im Bewußtsein eigenen authentischen Handelns steht.
H.-W. Graf
[1] Denken Sie an das jüngste RTL-Highlight: „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“